Interview: Lacrimosa
By Natalia N.


Ende März sollte ich für eine Woche in meine Heimatstadt Moskau fahren. Ich besuche diese Stadt immer mit grosser Freude und treffe mich mit meinen Freunden und Verwandten. Aber diesmal hatte ich das doppelte Glück, denn ich hatte die Möglichkeit mich mit Musikern aus der in der Schweiz beheimateteten Gruppe Lacrimosa vor ihrem Auftritt in Moskau zu treffen.

Ich sagte das Treffen mit Tilo Wolff und Anne Nurmi mit grosser Freude zu, denn es war sehr interessant für mich, wie die Musiker aus der Schweiz, in der ich zur Zeit wohne, meine Heimat wahr nehmen. Man muss unterstreichen, dass diese Band in Russland als Kultband angesehen wird. Jedes Jahr kommen Lacrimosa nach Russland und nicht bloss für ein Konzert, sondern sie machen eine Reise durch verschiedene Städte. Die Band erntet jedes Mal grossen Erfolg als Gast und es ist fantastisch! Im Laufe des Gespräches versuchte ich dem Geheimnis der Entstehung des russischen Phänomens in dieser schweizerischen Band auf den Grund zu gehen.

MF: Was könnt ihr allgemein über den Musikjournalismus sagen? Ist es für euch interessant, was die Vertreter der Presse schreiben und veröffentlichen?

Tilo: Es kommt immer drauf an. Es gibt Journalisten, die halten ganz tolle Fragen bereit und beschäftigen sich wirklich mit dem Thema. Es gibt aber auch welche, die haben bloss ihre Standardfragen und dann heisst es üblicherweise nur "wann ist euer letztes Album heraus gekommen?" oder "wann geht ihr auf Tour?". So ist es natürlich langweilig. Aber wenn man wirklich gute Fragen gestellt bekommt, dann wird es sehr spannend.

MF: Folgt ihr den musikalischen Trends oder achtet ihr gar nicht darauf, was um euch herum passiert?

Tilo: Weder noch also. Wir folgen keinen musikalischen Trends. Wir müssen uns auch gar keine Mühe geben, weil wir haben unseren Geschmack und wir machen halt das, weil es uns gefällt. Sicherlich gibt es den einen und anderen Einfluss. Das kommt natürlich vor, aber es ist überhaupt nicht in unserem Interesse, darauf Rücksicht zu nehmen, weder zu folgen noch besonders drauf zu achten dagegen zu sein. Wenn uns etwas gefällt, und das auch gerade im Trend liegt oder auch nicht, ok, super. Wenn uns der Trend gerade nicht gefällt, dann...

MF: ...ändert das nichts?!

Tilo: Ja, das ist so... - wir sind eine Konstante und Trends kommen und gehen, und manchmal trifft man sich und manchmal dann eben nicht.

MF: Eure Musik hat viel Symphonisches an sich. Verrat uns bitte, ob ihr einen klassischen Lieblingskomponisten habt. Vielleicht Bach oder Beethoven?

Tilo: Ja, es gibt eigentlich viele. Schwer zu sagen, wer es sein könnte. Aber ich mag zum Beispiel die Traurigkeit und die Tiefe des Spätwerkes von Mozart. Ich mag die unglaubliche Intensität von Bach, den Wahnsinn von Beethoven, die Explosion, die Emotionalität von Tschaikowski, die Weiten von Sibelius. Also jeder Komponist hat so was ganz Spezielles, was er so in seiner Musik zum Ausdruck bringt. Und es ist schön, diese verschiedenen Facetten, die ich gerade aufgezeigt habe, dann zu hören, wenn ich mitten in Gedanken abschweifen und halt weit fliehen will. Dann möchte ich jeweils was von Sibelius hören. So gibt es zu jeder Stimmung die entsprechende Musik.

MF: Findest du Zeit, Konzert zu besuchen und dir Live-Musik anzuhören?

Tilo: Habe sehr wenig Zeit! Ich würde gerne, aber es geht nicht immer.

MF: Welche Metal- und Rockgruppen mögt ihr am liebsten?

Anne: Die Klassischen..., natürlich Metallica und auch andere Stile wie zum Beispiel Muse...

Tilo: Placebo oder Okrays, die älteren Bands: Bonfire, Pink Floyd natürlich, Supertramp, Genesis (die alten), Marillion. Hmm..., also sehr viel handgemachte Musik. Also, was wir beide nicht so mögen, geht in Richtung elektronisch, zu downfloworientiert. Es muss schon handgemachte Musik sein, mit viel Kraft und grosser Ausdrucksstärke.

MF: Eben wart ihr auf der Tournee in Russland. Erzähle doch bitte über Eindrücke! In welcher Stadt hat es euch diesmal am besten gefallen?

Tilo: Es ist schwer, man kann es nicht so pauschal sagen, denn jede Stadt ist sehr eigen. In Russland für sich ist ja nicht alles gleich. Jede Stadt hat eine eigene Kultur, den eigenen Lifestyle und es ist sehr schwer zu sagen. Ich bin persönlich Fan von Moskau, weil es sehr vielseitig ist. Man hat ruhige Ecken, ein schöne Architektur, aber auch Nightlife und dann diesen Kreml, den roten Platz, wo alles so majestätisch wirkt und uns deshalb an die alte Zeit erinnert. Auch das moderne Moskau beweist grosse Vielseitigkeit, während in anderen Städte wie Sankt-Petersburg eigentlich vieles ziemlich gleich ist. Die beiden Orte sind komplett unterschiedlich. So kann man nicht wirklich vergleichend sagen, das ist besser, respektive das ist schlechter. Ich finde es allgemein ziemlich spannend in Russland zu touren, weil man wirklichen jeden Abend andere Menschen vor sich hat, also einen anderen Kulturkreis so zu sagen.

MF: Ist das Publikum denn von Stadt zu Stadt sehr unterschiedlich?

Tilo: Ja! Zum Beispiel in Moskau, wo die Menschen wirklich laut sind und nach vorne gehen, hingegen in anderen Städten wie Rostow dafür sehr zurückhaltend sind, sehr langsam, sehr gemütlich, ganz anders als in Moskau. Das ist sehr spannend.

MF: Ein paar Worte zum letzten Album «Revolution». Soviel ich verstanden habe, wurdet ihr durch die Ereignisse in Russland Anfang des 20. Jahrhunderts zum Schreiben des neuen Albums inspiriert. Oder vielleicht durch Pianisten wie Rachmaninow?

Tilo: Nein, eigentlich nicht. Das mag ein Zufall sein. Nee, es ist..., na gut, ich höre natürlich Rachmaninow oder Klavierkonzerte von Tschaikowski und sie gehen in die selbe Richtung, die auch meine ist. Sicherlich ist es ein Einfluss, der irgendwann mal da war, unbewusst.. - Genau, eher unbewusst und der nachher Früchte getragen hat und danach wieder weg ist. Aber geschieht nicht bewusst, dass ich mich dahin gesetzt und gesagt habe "ja ok, jetzt schreiben wir «This Revolution» wegen der russischen Revolution und machen daraus etwas Musikalisches. Dies nicht, weil ich die Revolution nicht ganz politisch sehe, sondern eher emotional, eher gesellschaftlich. Es ist ein Zufall, aber na ja manchmal ist es so, dass man gar..., die wichtigsten Dinge glaube ich, macht man sowieso aus dem Unterbewusstsein heraus.

MF: Durch die Texte?

Tilo: Ja!

MF: Wichtiges Thema! Meiner Meinung nach besitzen die Texte auf diesem Album einen spürbaren philosophischen Ansatz. Warum ist das so? Ich zitiere mal eine Zeile aus dem Titelsong: "This revolution is the evolution». Erkläre mir bitte, was das bedeutet.

Tilo: Na ja, eine Evolution ist etwas, was sich ständig verändert. Sie ist der Ausgangspunkt, und dann verändert sich der momentane Zustand. Evolution ist im Prinzip die Veränderung des Lebens und es gibt Zwischenphasen, wo man wieder reflektieren kann, hört aber eigentlich nie auf. Es wird nie ein Ende der Evolution stattfinden, weil das Leben ja immer weiter geht, aber es verändert sich laufend. Leben bedeutet stets Veränderung. Das heisst also, die Revolution ist der Startpunkt und dann sollte von dieser eine Evolution aus gehen, ohne aber dogmatisch zu sein. Es beginnt also etwas zu leben und sich zu verändern. Und wenn sich nichts verändert, dann findet keine Evolution statt. Ergo ist diese Revolution eine Veränderung des Lebens und damit eine Evolution.

MF: Ich verstehe den Sinn des Songs «Rote Sinfonie» nicht so ganz. Kannst du mir das etwas genauer erläutern?

Tilo: Da geht es im Prinzip..., rot ist ja die Farbe der Liebe. Und wenn man Musik macht, schreibt man sehr oft, dass man ganz viel Liebe von sich geben will. Die Liebe ist so ziemlich das heftigste Gefühl, das wir erleben können. Und man kann tausend Worte finden, um sie zu beschreiben, aber da ich visuell denke und rot die Farbe der Liebe ist, habe ich diesen Titel ausgewählt, um zu sagen, dass es im Prinzip eine Art Liebes-Sinfonie ist. Rot ist aber auch die Farbe des Blutes..., rot ist die Liebe, aber auf der anderen Seite gleichzeitig eine gefährliche, eine brutale und verderbliche Sinfonie. Im Prinzip vereinigt dieser Titel diese beiden Aspekte.

MF: Ihr interessiert euch ja sehr für Russland. Darum habt ihr wohl die Single «Krasnodar» aufgenommen. Der Titel steht somit für eine typisch russische Stadt. Warum interessiert ihr euch besonders für diesen Ort?

Tilo: Einerseits habe ich einen Hang zu Russland und andererseits habe ich viele Bücher über Russland gelesen.

MF: Welche denn?

Tilo: Hauptsächlich über die Zeit vor, während und nach Katharina der Grossen. Dann die Frühphase von Peter dem Grossen und seiner Tochter, darauf kam eben Katharina und weiter, wie sich Russland in der Folge entwickelt hat. Knapp bis hin zur Revolution. Ich bin einfach sehr fasziniert von der Vielseitigkeit des Landes auf der einer Seite und der Schwermut auf der anderen Seite, von dem was die Menschen in ihren Herzen tragen. Ich glaube, hiermit erklärt sich die Verbundenheit zwischen Lacrimosa und Russland, diese Fülle an Emotionalität. Und na ja..., klar über Moskau gibt es so viele Lieder, und ich dachte gerade, wie du gesagt hast, an eine typisch russische Stadt, aber eben nicht Moskau. Alle reden über Moskau, doch keiner spricht mal über die anderen Städte. Und so dachte ich, wenn mal über eine Stadt einen Song mache, dann über eine, an die sonst keiner denkt.

MF: Welche Orte in Russland möchtet ihr noch besuchen?

Tilo: Wir haben schon sehr viele Orte besucht, mehr als wir zuvor kannten, und das ist genau der Punkt, ich kann dir keine Stadt nennen, die ich gern besuchen möchte, weil ich diejenige noch nicht kenne und noch nichts darüber weiss. Also wenn, dann muss ich mich echt davon überraschen lassen und sagen, ok gut, besuchen wir mal eine neue Stadt, aber wir haben keine Ahnung, wie es dort ist, ob gut oder schlecht. Ja..., so lassen wir uns deshalb überraschen.

MF: Es gibt viele interessante Städte in Russland...

Tilo: ...welche ist eigentlich deine Lieblingsstadt?

MF: Mein Favorit ist Sankt-Petersburg, ich liebe Irkutsk, das ist nicht weit von China. Welche noch? Jekaterinburg

Tilo: Das ist schön...

MF: ...und auch Nizni Nowgorod.

Tilo: Habe ich noch nie gehört..., wie heisst übrigens die Stadt mit dieser riesigen Statue auf dem Berg?

MF: Wolgograd! (ehemals Stalingard)...

Tilo: ...davon habe ich einmal ein Bild gesehen..., von der Statue da. Diese Stadt ich würde gerne mal besuchen!